Ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier in A1. Darunter ein alter Fischgräten Parkett.
Jemand hat die Idee eine kreisförmige Spirale aufzumalen. Ich versteh nicht warum. Aber sie soll den Anfängergeist des Meditierenden darstellen.
So eine große weiße Fläche, auf der man seine Spuren hinterlassen soll, die andere begutachten, kann einem ziemlichen Respekt einflössen und sogar Momente von Panik aufkeimen lassen. Vor allem wenn man im Hauptberuf nicht Künstler ist und noch schlimmer wenn man immer nach Perfektion strebt.
Doch einer muss den Stift ansetzen und beginnen. Also lasse ich meine Hand über die leere Fläche ziehen. Moment für Moment. Ganz präsent, achtsam, konzentriert. Die Spirale windet sich von der Blattmitte immer weiter nach außen. Und dann bei der letzten Runde macht mir der Fischgräten Parkett einen Strich durch die perfekte Ästhetik. Die Parkettzwischenfuge ist zu groß und der Stift rutscht ab. Verdammt. Die Imperfektion ist nicht mehr zu leugnen. - Fein. Aufstehen. Krönchen richten. Weitermachen. Bis zum Ende, du Prinzessin!
„Und was machen wir mit meinem Ausrutscher?“ frage ich die Gruppe als ich den Stift endgültig absetze. Mit dem Anfängergeist wussten sie was anzufangen. Aber mit dem Strich, der aus der Norm läuft, leider nicht. Ratlose Gesichter schauen mich an und ich denke mir: So muss sich wohl meine Lehrerin damals gefühlt haben als sie in die Runde der Sechsjährigen fragte: „Wie entstehen Wolken?“ Und keine Antwort kommen wollte. Bis ich schließlich sagte: „Die kommen bei den Flugzeugen hinten raus.“
Na und deshalb schreib ich jetzt auch ganz einfach EXIT über den Ausrutscher. - Doch. Ich finde auch eine Anfängergeist Spirale darf einen Notausgang haben. Manch echte Wolken schauen ja auch aus wie Kondensspuren. Problem gelöst. Imperfektion kreativ beseitigt. Und damit wieder alles gut. Du perfekte Prinzessin!
Immer mehr Menschen stellen Ansprüche an sich selbst, die einem krankhaften Perfektionismus gleich kommen. Was als gesunder Antrieb durchgehen könnte, wird aber bei den meisten Menschen immer mehr zu einer Spirale aus Leistungsdruck und Überforderung. Ohne Exit. Ohne Bewusstsein für diese Zwangslage. Und ohne die Frage zu stellen, ob es nicht einen Ausgang geben könnte. Ob man nicht irgendwo eine Tür oder zumindest ein Fenster aufschlagen kann um ins Freie zu blicken. Und manchmal hält das Dilemma die Menschen auch davon ab, den Stift in die Hand zu nehmen und das Bild zu malen, das ein freies, individuelles Leben darstellt. Stattdessen bedienen wir uns Schablonen, zeichnen nach was andere vorgeben. Und wollen es noch besser machen, als die Vorlage es schafft.
Und am Rande des Abgrunds stehen zu wenige Japaner, die dir zurufen: Sei Mehr! Rett’dich!
Ja, Japaner! Sie haben Begriffe, die können wir nur mit vielen Wörtern umschreibend übersetzen. Das wird so komplex, dass es gleich als Philosophie durchgeht. Ziemlich perfekt also die Japaner. Und der überaus vollkommene und wunderbar klingende Rettungsruf an alle Perfektionisten ist:
WABI SABI!
Der Ausdruck steht für die Individualität, Natürlichkeit und Imperfektion des Seins. Es ist eine Lebensweise, die friedvoll annimmt, dass das Leben vergänglich ist. Wabi Sabi bedeutet in stiller Gegenwartsorientiertheit das Besondere der Dinge im Unvollkommenem zu sehen. Diese Sichtweise erlaubt den Menschen zu erkennen, dass jeder und alles unverwechselbar und einzigartig ist. Vor allem aber, dass man nicht perfekt sein muss, um ein glückliches Leben zu führen.
Sen no Rikyu wollte den Weg des Tees lernen und so suchte er den Teemeister Takeno Joo auf. Teemeister Joo befahl Rikyu, den Garten zu säubern und Rikyu machte sich sofort eifrig an die Arbeit. Er rechte den Kies, bis der Boden in perfekter Ordnung war. Als er fertig war, betrachtete er seine Arbeit. Dann schüttelte er den Kirschbaum, sodass ein paar Blüten wie zufällig zu Boden fielen. Der Teemeister Joo nahm Rikyu in seine Schule auf.
WABI SABI – mein Mehr Rett’dich!

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